
Waldwissen 5/6 - Der Wald und unsere Kultur
Kraftvoll, verwunschen, mystisch - der Wald hat auf uns eine magische Anziehungskraft. Die überwiegende Zeit unserer Entwicklungsgeschichte lebten wir Menschen im und vom Wald. Doch inzwischen scheinen wir die Verbindung zur Natur zu verlieren. Wird der Wald uns fremd? Nicht, wenn wir uns wieder auf das Abenteuer einlassen, ihn neu zu entdecken.
In diesen Wochen bekommst du bei uns viele Inspirationen und Anregungen, wie du wieder mehr Zeit im Wald verbringen kannst. Wir laden dich ein, diesen Frühling zu deinem Waldfrühling zu machen!
In diesem Waldfrühling-Beitrag wollen wir euch mitnehmen auf eine Reise durch die Zeit. In den letzten Wochen haben wir bereits viel über den Wald gelernt. Darüber, wie Bäume miteinander kommunizieren, wie sich der Wald auf unsere Psyche auswirkt oder auch, wie der Wald als Ressource genutzt werden kann. Doch das ist noch lange nicht die ganze Geschichte des Waldes! Wusstet ihr zum Beispiel, dass Bäume mal als Heiligtümer galten oder wie die Brüder Grimm zu ihre Vorstellung des Märchenwaldes gekommen sind?
Aber fangen wir am Anfang an, nämlich bei den frühen Vorfahren des heutigen Menschen. Diese Primaten, die vor Millionen von Jahren gelebt haben, waren Bewohner der Wälder. Damals war es durchschnittlich viel wärmer als heute, sodass man sich den Wald dieser Zeit eher als tropischen Regen- und Urwald vorstellen kann. Durch diese hangelten, kletterten und schritten und unsere Vorfahren. Die heute bekannten Mischwälder Mitteleuropas sind erst durch diverse Veränderungen des Klimas über sehr lange Zeiträume entstanden, denen wir Eiche, Ulme, Linde, Esche, Kiefer, Buche und viele weitere Baumarten verdanken. Die „neuen“ Wälder sind es nun, die die zeitgeschichtlich jüngeren Völker über Jahrhunderte begleitet und ihre Spiritualität, ihre Geschichten und ihre Kunst geprägt haben.
1. Von Kelten und Germanen
Dies betrifft selbstverständlich die verschiedensten Kulturen auf der ganzen Welt – an dieser Stelle wollen wir uns aber vor allem den Bereich um Mitteleuropa und das heutigen Deutschland ansehen. Beispielhaft für die vielen „Waldvölker“ dieses Gebiets sollen hier zwei stehen: die Kelten und die Germanen.
Die Urkelten kamen aus der ostasiatischen Steppe und bewegten sich in der Zeit um 400 v.Chr. in westliche und südliche Richtung. Die Germanen dagegen wanderten aus dem Norden in Richtung römisches Reich. Beide Völker lebten nicht isoliert, sondern vermischten sich und übernahmen Fertigkeiten und Kultur voneinander. Das ganze Weltbild dieser Menschen war geprägt von den Bäumen und Tieren des Waldes, sie lebten nah am und im Kreislauf der Natur.
So wurden die Anführer der Kelten, die sogenannten Druiden („dru“ bedeutete wahrscheinlich unter anderem „Eiche“), im Wald ausgebildet. Man glaubte, dass sie dadurch die Weisheit des Waldes in sich aufnehmen könnten, was sie erst als Anführer qualifizierte. Die Druiden verstanden sich auch darauf, durch extreme Askese eine Art „Seelenablösung“ herbeizuführen und Nähe zu den Göttern der Natur zu finden. Gebetet wurde in Eichenhainen („Drynemeton“), unter den Bäumen, die Erde und Himmel miteinander verbinden. Aber auch die Tiere des Waldes hatten einen festen Platz in der keltischen Spiritualität. Sie verehrten zum Beispiel den Hirsch als Waldgott („Cernunnos“) und Begleiter der Sonnengöttin.
Ähnliches findet man bei den Germanen: Auch für sie waren Bäume keineswegs nur Nutzpflanzen, sondern Heiligtümer und Sinnbild für den Kreislauf des Lebens. Aus einem Mythos aus den Liedern der Edda, einer Dichtungssammlung unbekannter Autoren aus dem 13. Jahrhundert, ist überliefert, dass die Nordgermanen an einen Weltenbaum glaubten, die Esche Yggdrasil. Diese sollte Himmel, Erde und die Unterwelt verbinden und mit ihrer Baumkrone den Himmel stützen. Die Westgermanen glaubten an den heiligen Baumstamm Irminsul, dem die gleichen Attribute zugeschrieben wurden. Doch die spirituelle Verehrung der Bäume beschränkte sich nicht auf diese besonderen Exemplare. Die Germanen glaubten, dass in den unterschiedlichen Baumarten Geister und Wesen lebten und widmeten diese den Gottheiten, zu denen sie beteten. Die Linde etwa war der Liebesgöttin Freya gewidmet und die Eiche dem Donnergott Thor. Die rituelle Verehrung dieser schloss auch das Darbringen von Opfern an den Bäumen ein.
Ohnehin ist die Eiche ein Baum, der bei den indogermanischen Völkern von Skandinavien bis Asien eine zentrale Rolle gespielt hat – meist in Verbindung mit dem jeweiligen Donnergott. Unter der Eiche wurden Stammesratsversammlungen abgehalten, wohl weil die Eiche statistisch gesehen viel häufiger vom Blitz getroffen wird (passend zum blitzwerfenden Thor) und als Sinnbild für göttliche Erleuchtung betrachtet wurde. In den grundlegend demokratischen und gemeinwohlorientierten Stämmen etwa der Kelten war dies sehr wichtig: Entscheidungen sollten immer mit göttlicher Weisheit zum Besten des ganzen Stammes getroffen werden. Der Häuptling hatte vor allem die Aufgabe, mit drei Hammerschlägen (Stichwort: Hammer des Thor) die Beschlüsse des Stammes zum Gesetz zu machen.
2. Dunkle Wälder des Mittelalters
Die starke Verbindung zur Natur und die Verehrung dieser stand nicht im Einklang mit den religiösen Vorstellungen der katholischen Missionare, die mit der Epoche der Spätantike (grob um 200 bis 700 n. Chr.) ihren „Siegeszug“ durch Europa begannen. Obwohl der Baum als Symbol auch im Christentum einen festen Platz hat, sah es die Kirche bis ins Mittelalter hinein als ihre Aufgabe an, der aus ihrer Sicht ketzerischen Verehrung der Tier- und Baumgötter ein Ende zu setzen. Hierzu wurden diese entweder gefällt, wie zum Beispiel auf Befehl Karl des Großen die Thor-Eiche der Germanen bei Geismar im heutigen Hessen, oder umgewidmet und an den christlichen Glauben angepasst. So wurde unter anderem die Freya-Linde zur Marien-Linde.
Ebenso geschah es mit dem Hirschgott der Kelten. Um den Eingeborenen, die ihre Traditionen natürlich nicht so einfach aufgeben wollten, entgegenzukommen, baute man den Hirsch in das Christentum ein. So entstand die Geschichte des heiligen Hubertus, der in den Wald zog, um einen Hirsch zu erlegen. Der Hirsch jedoch leuchtet hell auf (wobei sich in seinem Geweih ein strahlendes Kreuz bildete) und zeigte sich als Jesus Christus – der im Christentum ebenso für den Kreislauf des Lebens und die Wiedergeburt steht wie der Hirschgott der Kelten. Durch derartige Symbiosen gelang Schritt für Schritt die Missionierung der Urvölker.
Trotzdem setzte sich mit fortschreitender Christianisierung immer stärker die Ansicht durch, dass der Wald nicht, wie die „unzivilisierten“ Urvölker geglaubt hatten, ein heiliger Ort sei, sondern vielmehr ein Ort der Häresie. Dadurch bekam der Wald ein zunehmend schlechteres Image, was dazu führte, dass er im Mittelalter primär negativ konnotiert war: als Ort des Bösen, des Lauernden, des Gefährlichen und Dunklen. Ein Ort, der von Dämonen und Fabelwesen bewohnt war. So entstanden die unheimlichsten Mythen und Märchen. Zum Beispiel die Geschichte von Siegfried dem Drachentöter oder die Vorstellung vom „Wechselbalg“. Und doch ist das alte Wissen um die Heilkräfte des Waldes nie ganz verloren gegangen. Auch im Mittelalter wurden die Pflanzen des Waldes genutzt und kultiviert und an so manchem Ort lebte die Verehrung der Bäume im Sinne des alten Glaubens und des überlieferten Wissens im Verborgenen weiter. Der Konflikt dessen mit dem missionarischen Gedanken, nur der christliche Gott sei Quelle des Lebens und der Heilung und nur er dürfe Adressat von Gebeten sein, wurde oft genug unter Anwendung von Gewalt und Zwang und meist zu Gunsten des neuen Glaubens „gelöst“. Mit dem Fortschreiten dieser Entwicklung sollte die positive, spirituelle Verbindung zum Wald für einige Zeit Geschichte sein.
3. Romantischer Märchenwald und (verdrehter) Ursprungsmythos
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wandelte sich der Blick auf den Wald erneut. Bis dahin wurde er primär als Rohstoffquelle gesehen und weitgehend unreguliert genutzt, sodass viele Wälder stark verkleinert oder zerstört wurden. Angesichts dessen fand eine gründliche Reform der Waldnutzung statt, die auf einem uns sehr gut bekannten Prinzip beruhte, nämlich auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Der sächsische Staatsbeamte Hanns Carl von Carlowitz forderte 1713, man dürfe dem Wald nicht mehr Holz entnehmen, als dieser nachproduzieren könne. Diese Idee beruhte auf einer ganz bestimmten Überlieferung der Germanen: der Schlacht im Teutoburger Wald (auch: „Hermannschlacht“). In dieser, die eigentlich aus vielen kleinen Scharmützeln bestand, besiegten die Germanen die Römer mithilfe ihrer umfassenden Kenntnis des undurchdringlichen germanischen Waldes, in dem sie sich verbergen und aus dem sie Hinterhalte planen konnten. Auch wenn die Hermannschlacht nicht immer historisch akkurat dargestellt wird,* so haben die Mythen, die sich um sie ranken doch einen bedeutenden Einfluss auf das Bild vor allem der Deutschen von ihrer Geschichte und Kultur genommen. Basierend auf der Überlieferung des Politikers und Historiker Publius Cornelius Tacitus in seiner Schrift „Germania“ (um 100 n.Chr.) sollte der wilde, ursprüngliche „deutsche“ Wald also wieder hergestellt werden. Zusammen mit dieser neuen Art der Waldbewirtschaftung und groß angelegter Aufforstung setzte sich beim Volk eine romantisch verklärte Version der Vorstellung vom Ursprungswald durch. Er avancierte zum Sehnsuchtsort, man wollte wiederhaben, was man nicht kannte, was man aber als Lebensraum der eigenen Vorfahren betrachtete. In der Kunst entstand die sogenannte „Forstästhetik“, die die Schönheit des Waldes in Kunstwerken feierte. Auch der Begriff der „Waldeinsamkeit“ setzte sich durch, der künstlerisch durch mystische Stille, unberührte Natur und Weite verarbeitete wurde.
Doch auch die düsteren Geschichten des Mittelalters waren nicht verloren gegangen, insbesondere diejenigen von Waldwesen, Hexen und anderen Sagengestalten. Das Produkt dieser vermischten Vorstellungen zeigen besonders schön die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Diese spielen bekannterweise zumeist im Wald, den sie so darstellten, wie man sich derzeit die Umgebung der Germanen vorstellte: still und melancholisch, aber auch voller Leben und idyllischen Orten. Trotzdem ist der Wald hier auch oft ein Ort der Prüfung und der Gefahr. Wer ihn durchquert und allen Gefahren trotzt, der besteht quasi eine Art Reifeprüfung und kommt, sofern erfolgreich, als neuer Mensch wieder hinaus. Diese stilisierte Vorstellung vom Märchenwald findet sich zudem auch in dem um diese Zeit geprägten Begriff der „Waldeinsamkeit“, der eine fast heilige Ruhe in der unberührten Natur impliziert und Gegenstand vieler romantischer Kunstwerke wurde.
Insgesamt war also der Wald in der Romantik weniger wiederentdeckter Lebensraum in seiner ursprünglichen Art, sondern vielmehr Sehnsuchtsort – mit seinen schönen und bedrohlichen Seiten.
Um 1800 herum zeigte sich allerdings auch noch eine andere Seite des Germanen-Mythos. Dieser lebte nämlich nicht nur in der Kunst weiter, sondern auch in der Politik. Zur Zeiten der französischen Besatzung unter Napoleon wurde die Aufforstung zum gesamtgesellschaftlichen Bestreben, befeuert von der Idee, dass neue, dichte Wälder genauso vor den Franzosen schützen könnten, wie damals die Germanen vor den Römern. Der Wald wurde also auch Symbol einer patriotischen, nationalfixierten Gesinnung.
Diese beiden Facetten des Waldbildes finden sich in Deutschland auch im 19. und 20. Jahrhundert.
Auf der einen Seite festigte sich der Wunsch nach Erhalt des Waldes gegen alte und neue Bedrohungen der Ausbeutung und der Industrialisierung (Fabriken, Abgase, saurer Regen, Borkenkäfer etc.). Dies fand Ausdruck in den erstarkenden Naturschutzbewegungen bis hin zur Entstehung der ersten Umweltministerien, dem Einzug der Partei Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag und den heutigen Naturschutzbewegungen. Auf der anderen Seite wurde der germanischen Wald-Ursprungsmythos von den Deutschen in beiden Weltkriegen entfremdet und benutzt, um angebliche Gebietsansprüche und historisch bedingte Überlegenheit (anfangs vor allem gegenüber den Franzosen, später auch allen anderen gegenüber) durch die Abstammung von den „wilden“, „ursprünglichen, „starken“ Germanen zu konstruieren.
4. Der Wald von heute
Wie die Länge dieses Berichts, der trotzdem in keiner Hinsicht vollständig ist, zeigt, ist die Bedeutung des Waldes in der Geschichte Mitteleuropas und Deutschlands unglaublich facettenreich. Er hat Kunst, Gesellschaft und Politik beeinflusst - zum Positiven wie auch zum Negativen.
Einiges hiervon lebt auch heute noch fort: Für die einen ist der Wald ein an die Epoche der Romantik erinnernder Kontrast zum Stadtleben, ein Ort der Flucht aus dem Alltag, an dem man die Verbundenheit zur Natur fühlen kann. Fast so, wie die Vorfahren des Menschen und wie die Völker, die lange vor uns auf diesem Gebiet gelebt haben...
Für die anderen ist der Wald unheimlich, düster und bedrohlich – am Ende kann man sich doch nie vollkommen sicher sein, dass nicht doch irgendwo dort irgendwo Hexen, Feen und Kobolde wohnen, oder? Die Sagen und Geschichten des Waldes werden jedenfalls immer weiter erzählt. Außerdem setzen sich die Naturschutzbewegungen weiter für den Erhalt der Wälder ein und es wird versucht, ein nachhaltiges Gleichgewicht in der Forstwirtschaft herzustellen.
Wie wir den Wald sehen und ob und warum wir ihn erhalten wollen, hängt natürlich stark vom eigenen Erleben, Wissen und der persönlichen Einstellung ab. Eins ist jedoch sicher: Der Wald ist ein Teil von uns und hat unsere kulturelle Entwicklung ebenso wie die vieler anderer Menschen auf dieser Welt nachhaltig geprägt – mit realer Geschichte ebenso wie mit verklärten Sagen.
Quellen
https://www.youtube.com/watch?v=FzFesWu-tiw&t=4499s
https://naturwald-akademie.org/waldwissen/gesundes-und-genuss-aus-dem-wald/heilige-baeume/
https://www.planet-wissen.de/natur/landschaften/deutscher_wald/deutscher-wald-sehnsuchtsort-100.html
https://www.bpb.de/apuz/260674/natur-der-nation-der-deutsche-wald-als-denkmuster-und-weltanschauung
Johannes Zechner, Der deutsche Wald, Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie (1800 – 1945), 2016.
Ursula Breymayer/Bernd, Ulrich „Unter Bäumen – Die Deutschen und der Wald“, 2011.
Titelbild: © Gauthier-Saillard / WWF
* Wer sich für die tatsächliche Geschichte der Germanen im Zusammenspiel mit den Römern, die „Schlacht“ im Teutoburger Wald und die Person des Arminius (Hermann der Cherusker) interessiert, dem sei diese Podcast-Folge empfohlen: „Die Germanen“ von Eine Stunde History – Deutschlandfunk Nova.

Eine Story von: Sarah
Sarah schreibt ehrenamtlich für die WWF Jugend Community und ist im Redaktions- und Aktionsteam. Auch du kannst hier mitmachen - melde dich gerne bei uns.