Türchen 13

Published on December 13, 2023

    Hinter diesem Türchen verbirgt sich… Ein Buchtipp!

    Dieser führt uns weit in den Norden, nach Nordschweden. Hauptfigur ist die zu Beginn des Buchs 9jährige Elsa. Sie ist die Tochter samischer Rentierzüchter und später im Buch 18 Jahre alt. Die Samen (oder Sámi) sind eines der wenigen als indigen anerkannten Völker in Europa. Sie leben im Norden Schwedens, Norwegens und Finnlands sowie auf der russischen Halbinsel Kola und bezeichnen dieses Gebiet selbst als Sápmi. In allen Ländern bilden sie eine Minderheit, aber nur in Norwegen sind sie unter den Schutz der ILO-Konvention 169 über die verbindlichen Rechte der Urbevölkerungen gestellt. In Finnland, Schweden und Norwegen ist Samisch offiziell als Minderheitssprache anerkannt und wenn ihr beispielsweise im Norden Finnlands unterwegs seid, sind die Straßenschilder oft zweisprachig. Allerdings gibt es nicht nur eine samische Sprache, sondern mehrere, von denen Nordsamisch am häufigsten gesprochen wird, während andere fast ausgestorben sind. In der Geschichte der Samen kam es oft zu Unterdrückung durch die Staaten, in denen sie leben. Beispielsweise wurde die traditionelle Religion der Samen, die zum Animismus gehört, 1609 vom dänisch-norwegischen König Christian IV. verboten und die christliche Religion verordnet. Der Rentierhaltung gehen heute nur noch 15 Prozent der Samen nach. Erschwert wird diese durch den Klimawandel, aber auch durch Wilderei und Alltagsrassismus.

    Das Bild zeigt einen Schuh der zu traditionellen Tracht eines Sami-Stamms gehört. Die Spitze ist nach oben gebogen, so konnte der Schuh vorne in eine Schlaufe am Ski eingeharkt werden.
    Ein traditioneller samischer Schuh im Siida-Museum in Finnland. Die Spitze ist nach oben gebogen, damit eine Schlaufe am Ski daran befestigt werden kann.

    Genau darum geht es auch in „Das Leuchten der Rentiere“ der samischstämmigen Journalistin Ann-Helén Laestadius. Der deutsche Titel des Buchs ist sehr unglücklich gewählt. Hätte ich das Buch nicht geschenkt bekommen, hätte ich es aufgrund des Titels vermutlich als kitschigen Liebesroman mit wenig Tiefgang abgetan und nicht genauer angeschaut. Der schwedische Titel „Stöld“ („gestohlen“) passt da sehr viel besser. Die Autorin selbst lebt in Kiruna und hat ansonsten bisher Jugendbücher geschrieben, die aber leider nicht ins Deutsche übersetzt wurden.

    Ausgangsgeschichte des Buchs ist Elsas erster Ausflug auf Langlaufskiern zum Rentiergehege, wo die Neunjährige ihr Kalb geschlachtet und mit abgeschnittenen Ohren vorfindet. Außerdem trifft sie auf den Täter, einen Schweden aus dem Nachbardorf, der droht, sie auch zu töten, wenn sie ihn verrät. Dieses schreckliche Erlebnis und die Angst vor dem Täter begleiten Elsa im Laufe des Buchs. Aber auch der Täter taucht immer wieder auf und vergreift sich immer wieder an den freilaufenden Rentieren, die aber den samischen Züchtern gehören. Die schwedische Polizei enttäuscht Elsa und ihre Familie immer wieder, greift nicht ein, spricht von fehlenden Beweisen, obwohl sie selbst nicht zum Tatort gekommen ist, um welche zu sichern. Hier hat mich das Buch auch immer wieder dazu gebracht, nebenbei Google Maps aufzumachen und Orte zu suchen. Beispielsweise als man Elsa erzählt, dass übergeordnet das Revier in Umeå zuständig sei. Umeå befindet sich deutlich weiter im Süden als die Region, in der Elsa lebt. Somit wird klar, dass es undenkbar ist, dass das komplette Gebiet abgedeckt werden kann.

    Das Bild zeigt eine Rentierkuh mit Kalb am Straßenrand stehend.
    Im Roman muss Elsa erleben, dass ihr erstet eigenes Rentierkalb brutal getötet wurde.

    Immer wieder werden im Buch Rentiere brutal abgeschlachtet und gequält aufgefunden. Ein reales Problem für die samischen Rentierzüchter. 2020 führte ein an sich für die Samen positives Grundsatzurteil des höchsten schwedischen Gerichts, bei dem es um Jagd- und Fischrechte, aber auch Unabhängigkeit ging (mehr dazu bei Deutschlandfunk), zu einer Welle an Hassbotschaften und eben auch Hassverbrechen an Rentieren. Alles „nur Diebstähle“, das müssen sich die Züchter im Buch immer wieder anhören, wenn sie die Verbrechen zur Anzeige bringen. Für Elsa ist es dagegen Mord, denn wie ihr Großvater ihr beigebracht hat: Die Rentiere wurden den Samen nur geliehen, eigentlich sind sie Eigentum des Windes.

    Im Laufe des Buchs versucht Elsa die Polizei und die Presse zum Handeln zu bewegen, stößt aber auch bei ihren Verwandten und Freunden auf Widerstände, die sie warnen als junge Frau nicht zu weit zu gehen. Denn auch bei den Samen wird Elsa nicht immer ernst genommen, da Frauen erst seit kurzem die Rentierzucht erben können und sich Gerüchte halten, dass Motorschlittenfahren Frauen unfruchtbar macht. In ihrem Bekannten- und Freundeskreis kommt es auch immer wieder zu Selbstmorden oder Alkoholproblemen, da viele von der Lage frustriert sind und sich im Stich gelassen fühlen. Auch Elsas Bruder kämpft regelmäßig mit Wut und Verzweiflung.

    Aber auch unauffälligerer Alltagsrassismus ist Thema. Zum Beispiel muss die Großmutter irgendwann ins Altenheim, wo angelblich eine Mitarbeiterin Samisch spricht. Diese spricht allerdings Meänkieli, eine andere Minerheitensprache Schwedens, wodurch Elsas Großmutter sie nicht versteht. Über die Großmutter erfahren wir auch etwas über die Vergangenheit der Samen, da diese in ihrer Kindheit gezwungen wurde auf eine „Normannenschule“ zu gehen und ihr die eigene Sprache abgewöhnt werden sollte.

    Insgesamt war das Buch super mitreißend und man kann sehr gut in Elsas Welt abtauchen. Durch ein Glossar hinten im Buch werden samische Begriffe, die im Buch vorkommen, erklärt, was teils sehr hilfreich ist. Man lernt also auch noch was! J
    Es ist auch sehr schön Elsas Entwicklung von einem Kind, das etwas Schreckliches erlebt hat und darüber schweigen muss, zu einer jungen Frau, die den Mund aufmacht und gegen den Hass auf ihr Volk und die Missachtung seines Lebensraums auch durch Bergbau und Wasserkraft kämpft. Also falls ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht, noch einen sinnvollen Weihnachtswunsch für Verwandte braucht oder einfach Lesestoff für den Winter, kann ich euch das Buch empfehlen. Es gibt das Buch auf jeden Fall auch gebraucht im Internet und vielleicht ja auch in eurer Stadtbibliothek (falls ihr es selbst lesen und Ressourcen sparen wollt).

    Das Bild zeigt das Buchcover in Blautönen auf weißem Untergrund.

    Mehr zu den Samen findet ihr zum Beispiel auf der Seite des Siida-Museums, dessen Besuch ich euch auch empfehlen kann, solltet ihr mal im Norden Finnlands unterwegs sein. Das Museum verknüpft die Geschichte der Samen mit einer Ausstellung zur Natur Nordfinnlands und zeigt wie beide miteinander verwoben sind. Auch in Nordschweden gibt es Museen zur Kultur der Sámi. Falls euch eine Reise mal dorthin verschlägt, denkt daran, euch nicht nur oberflächlich für z. B. auf dem jährlichen Jokkmokks Vintermarknad („Jokkmokks Wintermarkt“) verkaufte Kunstwerke und Fotos mit Einheimischen in traditioneller Tracht zu interessieren, sondern daran zu denken, dass die Samen echte Menschen mit echten Problemen und einem echten Leben sind. Denn auch ahnungslose Touristen, die die Sami für reine Fotoobjekte und das Leben in Nordschweden für ein einziges Fest halten, werden im Buch durch Elsa kritisiert: „Sie kolonisieren unsere Kultur mit ihren Blicken auf uns.“ 

    Noch eine schöne zweite Adventshälfte wünscht euch

    Johanna aus dem Redaktions- und Aktionsteam

    weitere Quellen:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Samen_(Volk)

    https://www.literaturcafe.de/das-leuchten-der-rentiere-von-ann-helen-laestadius-und-das-leiden-der-rentierhalter/

    Alle Bilder: eigene Bilder


    Die Autorin Johanna

    Eine Story von Johanna

    Johannna schreibt ehrenamtlich für die WWF Jugend Community. Sie ist im Redaktions- und Aktionsteam. Auch du kannst hier mitmachen - komm in unser Team.